Lübeck/Ratzeburg. Am 24. Februar 2022 griffen russische Truppen die Ukraine an. Hunderttausende mussten ihr Hab und Gut verlassen, flüchteten vor Bomben und Panzern. Zehntausende Menschen verloren ihr Leben. Seit einem Jahr tobt ein erbarmungsloser Krieg in Europa - und Anzeichen für Frieden gibt es nicht. Stimmen und Gedanken zum Jahrestag aus dem Kirchenkreis Lübeck-Lauenburg.
Petra Kallies, Pröpstin in Lübeck
Ich bin Jahrgang 1963 – die Friedensbewegung Anfang der 1980er-Jahre hat mich maßgeblich geprägt: persönlich, theologisch und politisch. „Frieden schaffen ohne Waffen! Nein zur Aufrüstung! Abschaffung der Wehrpflicht! Schluss mit dem Wettrüsten!“
Menschen eint die Sehnsucht nach Frieden
Krieg ist unvernünftig und unwirtschaftlich. Das kann doch jeder vernünftige Mensch einsehen – und jedes Kind sowieso. Es ist an der Zeit, einander offen zu begegnen. Wenn es eine Sehnsucht gibt, die die Menschheit eint, dann ist es doch die Sehnsucht nach Frieden.
Von den kalten Kriegern und den atomaren Wettrüstern wurden wir damals ausgelacht, als naiv verspottet. Trotzdem fiel Ende der 1980er-Jahre der so genannte „Eiserne Vorhang“. Menschen aus Ost und West begegneten einander als Menschen – mit denselben Hoffnungen und denselben Träumen.
Doch seit einem Jahr, seit dem Überfall Russlands auf die Ukraine, stelle ich mir immer wieder die Frage, ob ich mein gesamtes Erwachsenenleben verkehrt gelegen habe; ob ich 40 Jahre lang für das Falsche „gegangen bin“ und ob ich als Pastorin stets das Verkehrte gepredigt habe. Nämlich, dass Frieden und Versöhnung möglich sind. War das falsch?
War es naiv, an das Gute zu glauben?
Manchmal frage ich mich, ob es nicht wirklich naiv war, an das Gute im Menschen zu glauben.
Welche Haltung habe ich als Christin heute? Wofür stehe ich? Für wen gehe ich?
Ich bin davon überzeugt, dass meine Hoffnung auf die Kraft der Versöhnung richtig ist. Ich fürchte, dass Waffenlieferungen an die Ukraine auch weiterhin nötig sein werden, und vertretbar sind, ebenso wie eine bessere Ausstattung der Bundeswehr. Ich glaube aber, dass es die Aufgabe der Kirchen und ihrer Mitglieder ist, dass wir uns um konkrete humanitäre Hilfe kümmern – und unseren Glauben an die Friedenssehnsucht der Menschen nicht aufgeben. Es gehört zum Wesen des Glaubens, dass er bisweilen quer zum Mainstream liegt. Irgendwann (gebe Gott, dass es bald sein wird!) wird auch dieser Krieg zu Ende sein. Dann braucht es Menschen, die die Sprache des Friedens und der Versöhnung noch nicht verlernt haben.
Kai Feller, Ökumene-Pastor im Kirchenkreis
Vor einem Jahr griff Russland die Ukraine an. Welche Gedanken gehen Ihnen dabei durch den Kopf?
Kai Feller: Ich erinnere mich an den Schock, als ich in der Nacht auf Google Maps einen Stau auf der Süd-Nord-Verbindung der Krim erblickte. Da wusste ich, die Invasion hat begonnen. Wenig später hörte ich über die LiveCam am Kyiver Maidan die Detonationen in der Stadt. Ich hatte es bis zuletzt nicht für möglich gehalten, dass Russland Millionenstädte bombardiert und Panzer auf die Hauptstadt zurollen lässt. Es war wie ein Alptraum. Noch bevor ich meinen Sohn am Morgen zur Schule brachte, rief seine Patin aus Odesa an und berichtete von Raketeneinschlägen. Ich konnte nur noch heulen...
Viele Menschen in Deutschland fürchten eine weitere Eskalation. Was denken bzw. fühlen Sie?
Kai Feller: Ich gehöre nicht dazu. Wenn jemand überfallen wird, fürchte ich um die Person, die von dem Überfall betroffen ist und nicht um diejenigen, die zuschauen und überlegen, ob sie Hilfe leisten oder nicht. Wissen Sie, in der Ukraine geben Akademikerinnen ihren Beruf auf oder Väter ihre Kinder in fremde Obhut und lernen den Umgang mit einer Waffe. Sie hätten sich so etwas nie vorstellen können. Aber sie wissen genau, dass es jetzt von ihnen abhängt, in was für einem Land sie und ihre Kinder einmal leben werden. Dass Menschen für ihre Freiheit kämpfen, dass können viele Deutsche einfach nicht verstehen.
Schneller und beherzter reagieren!
Was kann Deutschland, was kann jeder einzelne Mensch hier in der Region tun, um den betroffenen Menschen zu helfen?
Kai Feller: Die Menschen in der Ukraine sind Deutschland unheimlich dankbar für die geleistete Hilfe, das höre ich bei jeder Gelegenheit. Dennoch finde ich: Wir können schneller und beherzter agieren. Ein Beispiel: Im März hat die Ukraine um Leoparden gebeten, im Januar des darauffolgenden Jahres hat der Kanzler sich dazu durchgerungen. Dabei hätten schon im Spätsommer weitere Gebiete befreit und Menschen gerettet werden können. Jetzt kommen die Panzer wahrscheinlich zu spät. Im Grunde können wir der Ukraine dankbar sein, dass sie den Russo-Faschismus, der die freiheitliche Demokratie in weiten Teilen Europas bedroht, so entschieden bekämpft.
Was hat - aus unserer regionalen Perspektive - gut geklappt?
Kai Feller: Drei Tage nach dem Überfall auf die Ukraine haben wir den Verein Ratzeburg Hilft gegründet. Nach einer Woche rollte der erste 40-Tonner mit Hilfsgütern los. In Ratzeburg waren die Regale leer, es gab keine Babynahrung mehr. Die Leute haben uns überhäuft. Bis zu 50 Freiwillige haben unentwegt sortiert, gepackt, beschriftet. Unsere ukrainischen Volontäre haben die Sachen zu den Ausgebombten nach Ochtyrka und Chernihiv gebracht. Dann habe ich 20 000 Euro beim Kirchlichen Entwicklungsdienst beantragt, die Summe haben wir aus Spenden noch einmal verdoppelt und davon Medikamente und Medizintechnik für Krankenhäuser in Odesa, Mykolayiv und Kramatorsk gekauft.
Ich habe die Traurigkeit gespürt
Gibt es ein persönliches Ereignis im Zusammenhang mit dem Russischen Krieg, das Ihnen besonders in Erinnerung geblieben ist?
Kai Feller: Als ich mit einem Kleinbus in der Ukraine war, um ein paar Sachen hinzubringen, habe ich die Erschöpfung und Traurigkeit der Menschen deutlich gespürt. Seit neun Jahren leben sie mit diesem Krieg, aber das letzte Jahr hat tiefe Furchen in ihren Seelen hinterlassen. Trotz alledem sind sie entschlossen, das durchzustehen, und machen das Beste daraus. Es war der 14. Januar, das Alte Neujahr, ein sonniger Samstag Nachmittag in Lemberg (Lviv), man geht aus, trifft sich, genießt das milde Wetter. Um 15 Uhr der Luftangriff. Niemand rennt um sein Leben. Eine Freundin via Textnachricht: "Hast du einen Schutzraum gefunden?" - "Nein, ich bevorzuge die Sonne." Am Abend sitzen wir im Café und sehen die Aufnahmen von schreienden Menschen unter den Trümmern eines Wohnblocks in Dnipro. Später lese ich: 45 Tote, darunter sechs Kinder; 80 Verletzte, darunter 16 Kinder. Der Abend und die Nacht in Lemberg waren rabenschwarz, denn hier wurde nur die Energieversorgung getroffen.
Elisabeth Hartmann-Runge, Flüchtlingsbeauftragte im Kirchenkreis
Die Nachrichten und Bilder verstören mich zutiefst. Die Kriegslogik macht mir große Angst. Die Perspektive, dass dieser Krieg mit allen damit verbundenen weltweiten Folgen sich noch sehr lange hinziehen wird, ist bedrückend. Die Polarisierung zwischen denen, die die alternativlose Notwendigkeit von mehr Waffenlieferungen gegen den russischen Aggressor betonen und denen, die nach Ansätzen für Verhandlungen suchen, macht mich hilf- und ratlos.
Menschenrechte sind unteilbar!
Wirtschaftlich, politisch, administrativ und zivilgesellschaftlich - dazu zähle ich auch Kirchen und Wohlfahrtsverbände - gibt es gute Voraussetzungen für eine großzügige, solidarische Aufnahme Geflüchteter und Hilfsmaßnahmen in den Kriegsgebieten. Jede und jeder von uns setzt sich mit den Bildern, Informationen und Erzählungen auseinander. Das stellt Gewohntes in Frage und fordert zum Umdenken heraus. Und das schließt für mich mit ein, auch diejenigen im Blick zu haben, die aus anderen Teilen der Welt zu uns kommen und auf unsere Solidarität hoffen: aus anderen Kriegsgebieten der Welt, mit anderen Fluchtgründen und anderen kulturellen und Bildungshintergründen. Wir müssen es immer wieder neu buchstabieren: Menschenrechte sind unteilbar!
Ich habe am Freitag, dem 25. Februar 2022, einen Tag nach dem Beginn von Putins Angriffskrieg, mittags das Friedensgebet in St. Marien geleitet. Es war das erste Friedensgebet nach dem Ausbruch eines Kriegs in Europa. Dieselben Worte, der Liturgie von Coventry, die zu beten mir vertraut sind, hatten einen ganz neuen, dringlichen Klang bekommen.
Ulf Kassebaum, Geschäftsführer des Diakonisches Werks im Herzogtum Lauenburg
Ein Jahr Ukraine-Krieg - welche Gedanken gehen Ihnen dabei durch den Kopf?
Ulf Kassebaum: Dieser schreckliche Krieg in Europa hat unser aller Leben verändert. Er hat unsägliches Leid über die Ukraine gebracht, er hat bei unzähligen Menschen Zukunftsängste und Sorgen ausgelöst, er stellt uns als Einzelne und unsere Gesellschaft nach den anstrengenden Jahren der Corona-Pandemie auf eine enorme Belastungsprobe, der viele sich kaum gewachsen fühlen. Aber dieser Krieg hat uns auch mobilisiert, er hat unsere Hilfsbereitschaft und Solidarität gestärkt, er hat uns den Wert unserer freiheitlichen, rechts- und sozialstaatlichen Demokratie neu vor Augen geführt und er hat viele Menschen für das Leid in der Welt weiter sensibilisiert. Für uns als Diakonisches Werk des Kirchenkreises hat dieser Krieg die Herausforderung mit sich gebracht, gemeinsam mit unseren Partnern neue Angebote zu schaffen – für geflüchtete Menschen ebenso wie für diejenigen, die durch die Energiekrise in finanzielle Nöte geraten sind oder alle diejenigen, die in dieser belastenden Situation Gesprächsangebote oder auch einfach mal Ablenkung vom Alltag suchten und suchen.
Wir müssen mit diesen Ängsten leben
Wie hoch bewerten Sie die Gefahr einer Eskalation des Krieges? Die Angst vieler Menschen ist groß...
Ulf Kassebaum: Wir begegnen in allen unseren diakonischen Angeboten Menschen mit vielfältigen und unterschiedlichsten Ängsten, beispielsweise vor scheinbar aussichtsloser Überschuldung, vor dem Zerbrechen der Partnerschaft und Familie, vor Ausgrenzung, vor ausbleibender Integration, vor Überforderung in der Erziehung, vor Gewalt, vor bürokratischer Willkür, vor verpassten Chancen, vor der Zukunft… Nun, nach jahrelanger Angst vor „dem Virus“ kommt die Angst vor dem Näherkommen oder der Ausbreitung des Krieges dazu. Wir müssen mit all diesen Ängsten leben und ihnen zugleich begegnen. Das „Fürchte Dich nicht“ der Bibel verstehe ich persönlich nicht als Verbot einer dem Menschen innewohnenden Fähigkeit, potentielle Gefahren wahrzunehmen und sich auf eine Reaktion vorzubereiten. Für mich ist das „Fürchte Dich nicht“ die Aufforderung, sich nicht von seinen Ängsten davon abhalten zu lassen, sich stets und ständig darum zu bemühen, die Welt zu einem besseren Ort zu machen.
Was können die Menschen denn konkret tun, um zu helfen?
Ulf Kassebaum: Jeder einzelne Mensch kann in der Begegnung mit allen seinen Mitmenschen für unsere Werte einstehen. Mitmenschlichkeit. Toleranz für Andersartigkeit. Hilfsbereitschaft. Freundlichkeit. Fairness. Solidarität. Frieden. Es gäbe vieles zu ergänzen… Es ist für die meisten Menschen selbstverständlich geworden, den Blick auf sich selbst zu richten, die eigenen Bedürfnisse wahrzunehmen. Die hiermit verbundene Fähigkeit zur Selbstliebe ist gut und wichtig. Nur nicht auf Kosten der Nächstenliebe, einem zugegebenermaßen etwas altmodischen, aber ohne Zweifel aktuellem Begriff. Wenn wir uns gegenseitig unterstützen und füreinander da sind, wenn wir solidarisch bleiben oder noch solidarischer werden, dann ist viel geholfen.
Alle Akteure arbeiten zusammen
Was hat seit Ausbruch des russischen Angriffskrieges auf die Ukraine hierzulande gut funktioniert?
Ulf Kassebaum: Alle nur denkbaren Akteure haben in dieser Krise hervorragend zusammengearbeitet. Ehrenamtlich Engagierte, staatliche Institutionen und nicht zuletzt wir als kirchliche Einrichtungen haben Hilfe und Unterstützung in einem beeindruckenden Maß auf den Weg gebracht. Schnell und unbürokratisch konnten Maßnahmen umgesetzt werden.
Blicken Sie auf die vergangene zwölf Monate zurück, gibt es da ein Ereignis, das Ihnen besonders in Erinnerung geblieben ist?
Ulf Kassebaum: Ganz besonders wird mir persönlich eine Adventsfeier in einer unserer Einrichtungen in Erinnerung bleiben. Geflüchtete aus der Ukraine, aus Afghanistan, aus dem Irak, aus Syrien, aus Eritrea und anderswo, ehrenamtlich engagierte Menschen aus der Region und unsere hauptamtlichen Mitarbeitenden haben in einer so unglaublich friedlichen Atmosphäre diese Stunden zusammen verbracht. Sprachliche Barrieren waren kein Hindernis, sich freundlich zu begegnen, mit großer Hilfsbereitschaft und dem gegenseitigen Verständnis für die Situation der anderen, in Wertschätzung und Akzeptanz der Andersartigkeit. Konfrontiert mit einer für viele sehr fremden Kultur, mit Weihnachtsliedern, die sie nie zuvor gehört haben und Bräuchen, die ihnen überwiegend fremd waren, zeigte sich bei allen Anwesenden Toleranz, Mitmenschlichkeit und Humor. Das gemeinsame Tee- und Kaffeetrinken, das gemeinsame Lachen und Singen, das gemeinsame Nachdenklichsein. Das war ein echt tolles Erlebnis.
Silke Meyer, Leiterin des Ev. Frauenwerks Lübeck-Lauenburg
Am 24. Februar 2022 griff Russland die Ukraine an. Welche Gedanken verbinden Sie mit dem Krieg?
Silke Meyer: 365 Tage abgrundtiefes Schrecken. Und noch kein Ende in Sicht. Jeden Tag bete ich, dass dieses sinnlose Abschlachten bald ein Ende hat. Offen bleibt die Frage, wie es gelingt, das bittere Leid der Menschen aufzufangen, das aus diesem Krieg erwächst? Das Leid aller Opfer, Täter und ohnmächtigen Zeug*innen. Auch lassen sich die weitreichenden Konsequenzen dieses Krieges - und der vielen anderen, die derzeit auf unserem Planeten wüten - nicht ermessen. Seit Russlands Invasion auf die Ukraine wurde hierzulande mit etlichen Tabus gebrochen. Und was für ein Rückschlag auch für die europäische Klimapolitik! Oft kommt mir der Spruch in den Sinn: „Stellt Euch vor es ist Krieg und keiner geht hin.“ So einen Generalstreik auf allen Seiten würde ich gern anzetteln. Inspiriert von der großen biblischen Vision: „Schwerter zu Pflugscharen!“ Eine Vision, die mich seit meiner Jugend in der DDR-Vorwendezeit, bis zum heutigen Tag nicht loslässt.
Licht in einer immer dunkleren Welt
Was fühlen Sie, wenn Sie all die Bilder und Nachrichten verfolgen?
Silke Meyer: Ich fühle Wut und Ohnmacht. Obwohl ich von der täglichen Bilderflut nur einen Bruchteil davon an mich heranlasse, gehen mir die Schicksale der Betroffenen an die Nieren. Trotzdem denke ich: In einer Welt die immer dunkler wird, ist es umso wichtiger, das Licht aufrecht zu erhalten. Möglichst im hier und jetzt präsent zu sein und alles zu tun, was der Liebe dient. Ich bitte Gott um Kraft für den Alltag und die Kunst der kleinen Schritte. Und das zu lassen, was dazu führt, selbst in eine Angstspirale hineinzugeraten. Bei diesem Dilemma. Waffenlieferungen verlängern das Sterben und den Konflikt, ohne dass er sich entscheidet. Mehr und besser erhöht die Eskalation. Was wäre die Alternative? Lässt sich ein Gegner zum Frieden zwingen? Russlands Angriffskrieg in der Ukraine hat massive Veränderungen auch in Europas Verteidigungsarchitektur angestoßen. Der Angst vor einer möglichen militärischen Eskalation schenke ich keine Energie. Meine Aufmerksamkeit und Sorge gilt eher dem, was die Kriegsauswirkungen mit uns Menschen und unserer Demokratie machen. So hoffe ich, dass die Politik ökonomisch und strukturell gute Voraussetzungen schafft für die vielen Flüchtlinge, die weiterhin kommen werden. Ohne die eigenen sozialen Engpässe aus dem Blick zu verlieren. Und ich hoffe, dass wir Menschen uns in unserem direkten Sozialraum für ein gutes Miteinander einsetzen.
"Der Frieden ist der Weg"
Was kann jeder einzelne Mensch, auch hier in der Region, tun, um zu helfen?
Silke Meyer: Es kann jede:r an seinem Platz in eigenen alltäglichen Bezügen Teilhabe und Austausch ermöglichen, Verständnis-Brücken bauen, Netzwerke spannen, zwischenmenschlich Verbindung schaffen, Menschen vorbehaltlos wahrnehmen, Gemeinschaft und Frieden in seinen sozialen Bezügen stiften. Der Frieden beginnt in jedem von uns. Um es mit Gandhi zu sagen: „Es gibt keinen Weg zum Frieden, der Frieden ist der Weg.“ Zum Beispiel bietet das Ev. Frauenwerk seit dem Kriegsausbruch neben offenen Räumen zum Austausch auch Anleitungs- und Übungskurse in gewaltfreier Kommunikation an.
"Du bist nicht allein"
Was hat aus Ihrer Sicht bei der Betreuung von Geflüchteten gut geklappt?
Silke Meyer: Gut geklappt hat, dass zeitnah durch eine intensive Netzwerkarbeit hilfreiche Schnittstellen zur besseren Verständigung, Information und seelischen Gesundheit für geflüchtete Ukrainer:innen mit ihren Kindern möglich wurde. Ich denke an den Begegnungsort in St. Lorenz. Schon bald nach Beginn des Angriffskrieges auf die Ukraine, haben wir es im Bündnis mit der Laurentius- und internationalen Gemeinde, Flüchtlingsarbeit, Bahnhofsmission, der Stadt und vielen Ehrenamtlichen aus allen Bereichen geschafft, ein tolles Angebot für die aus der Ukraine Geflüchteten über viele Wochen vorzuhalten. Oder auch das unkomplizierte Entgegenkommen mit räumlichen Ressourcen. So stellt seit November 2022 das Frauenwerk im Steinrader Weg in Lübeck am Wochenende der von und mit ukrainischen Psychologinnen organisierten Selbsthilfegruppe „du bist nicht allein“ Räume zur Verfügung. Ukrainische Frauen und Mütter können sich hier zum Austausch mit Kinderbetreuung treffen. Sie und ihre Kinder werden auf diese Weise niederschwellig in ihren Gefühls- und Bedarfslagen aufgefangen und begleitet.
Gibt es ein Ereignis, was Dich seit Kriegsausbruch besonders in Erinnerung geblieben ist?
Silke Meyer: Besonders eindrücklich ist mir die Begegnung mit Maria Reznikova, die alles ihr derzeit Mögliche dransetzt, um Mütter und ihre Kinder in ihren traumatischen Erfahrungen aufzufangen. Sie ist ganz dicht dran an den persönlichen Schicksalen der Geflüchteten. Uns bewegen Fragen: Wie lässt sich kleinen Kindern erklären, warum sie in einer fremden Welt und seit einem Jahr ohne ihren Papa leben? Wie lässt sich das Grauen verarbeiten, dass die Geflüchteten täglich über die Medien erreicht? Wohin sollen die Jugendlichen mit ihrer Wut? Mit jedem Kriegstag wird der Spagat größer zwischen Entwurzelung und neuem Lebensentwurf.
Kai Schäfer, Pastor in der Kirchengemeinde Schlutup
Dieser Krieg berührt uns alle. Zwei Monate vor diesem Krieg der russischen Armee hatte ich das Buch "Sie kam aus Mariupol" zu Ende gelesen und die ukrainische Autorin Natascha Wodin zum Volkstrauertag nach Schlutup eingeladen. Denn sie hatte mich in die Zeiten des deutschen Überfalls auf die heutige Ukraine gedanklich geführt. Landstriche und Städte brannten vor über 80 Jahren – Zwangsarbeiterinnen wurden als Sklavinnen nach Deutschland geholt und gesamtgesellschaftlich zu lange „vergessen“. 2022 - kurz nach Putins Kriegsbeginn erhielt unsere Kirchengemeinde samstags die Anfrage: „Könnt Ihr in Schlutup morgen einen Bus unbegleiteter Kinder aus Kiew aufnehmen? " Ich sagte „Ja“, legte den Telefonhörer auf und musste erst einmal heulen. „Nie wieder Krieg“ waren doch die wichtigsten Worte meiner Omas und Opas, meiner Eltern.
"Ich bin selbst geflohen, jetzt möchte ich helfen"
Spontan kamen nach dem Sonntagsgottesdienst im Gemeindehaus ca. 20 Leute aus ganz Lübeck zusammen. Vermutlich kam jener Bus dann jedoch nicht hier, sondern woanders an. Auch ließen sich in den kommenden Tagen über Messangerdienste mehrere lokale Hilfszüge – vor allem über Stockelsdorf organisieren. In Erinnerung bleiben mir auch die Worte von Zahra (29), die 2015 aus dem Iran nach Deutschland fliehen musste: "Ich bin doch selbst geflohen und weiß, wie das ist. Jetzt möchte ich mithelfen!“ Erlösung finden wir durch Erinnerung. Glaube und Tradition helfen, heute zu Handeln. Wer nur auf eigenen Vorteil bedacht ist, sein Land oder seinen Glauben über alles stellt, versteigt sich in Lügen und wird nicht in guter Erinnerung bleiben. Geben wir Russland nach Putin die Hand - so wie auch Deutschland die Chance hatte, sich demokratisch zu entwickeln. Entsagen wir den Versuchungen Freiheit, deutsche Verfassung und Demokratie in Europa zu torpedieren. Beten wir auch weiterhin für den Frieden in der Welt!