Lübeck. Das Präventionsgesetz der Nordkirche gibt klare Vorgaben, wie mit Vermutungen sexualisierter Gewalt zu verfahren ist. „Wir bieten Hilfe und Unterstützung an, wir reagieren und ziehen notwendige Konsequenzen“, sagt Petra Kallies, Vorsitzende des Kirchenkreisrats. Aufgabe der Kirchengemeinden in Lübeck und im Herzogtum Lauenburg ist es, individuelle Schutzkonzepte zu entwickeln. Ziel der Schutzkonzeptarbeit ist es, präventive Maßnahmen in allen Bereichen der Gemeinde zu etablieren und frühzeitige Intervention zum Schutze (potenziell) Betroffener bei Vermutungen zu ermöglichen.
Wo beginnt sexualisierte Gewalt?
Ortstermin im Gemeindehaus in Travemünde. Seit einigen Monaten treffen sich hier acht haupt- und ehrenamtliche Mitarbeitende regelmäßig mit Janina Timmermann, Leiterin der Fachstelle zur Prävention sexualisierter Gewalt beim Kirchenkreis, zur Projektarbeit. Das gemeinsame Ziel: ein Schutzkonzept für die kirchliche Arbeit in dem Ostseebad. Auf dem Weg dahin gilt es, eine dezidierte Potenzial- und Risikoanalyse zu erstellen. Für alle Bereiche - von der Arbeit im Kindergarten über Konfi-Gruppen bis zu den Angeboten für die älteren und betagten Gemeindemitglieder.
„Die Nordkirche hat von uns und allen Gemeinden ein Schutzkonzept eingefordert“, sagt eine Pastorin aus Travemünde. Aber: Die Runde kommt nicht nur zusammen, weil es „von oben“ vorgegeben ist. „Nein, wir möchten klare Vereinbarungen treffen, uns und andere sensibilisieren. Wir möchten Sicherheit und klare Regeln haben - für alle Beteiligten, Mitarbeitende ebenso wie für Menschen, die zu uns kommen.“
Die Arbeit fällt keinem leicht
Leicht fällt der Runde die Arbeit nicht. Das Thema sexualisierte Gewalt ist belastend, vielschichtig - und nicht immer eindeutig. Die Auseinandersetzung verlangt von jedem einzelnen in der Gruppe immer wieder, sich in Situationen hineinzuversetzen. Was ist grenzwertig? Was ist eine Grenzverletzung? Welche Meldewege sind erforderlich? Was können wir tun, um dieses Risiko zu minimieren?
33 Seiten umfasst die Risikonalyse. 33 Seiten, die nicht nebenbei abzuhaken sind. Welche räumlichen Gegebenheiten in der Kirchengemeinde bergen mögliche Gefahren und wie können diese behoben werden? Wer hat eigentlich Zugriff auf Schlüssel für bestimmte Bereiche? Können Fremde Räumlichkeiten unbemerkt betreten und verlassen? Gibt es dunkle und uneinsichtige Ecken an kirchlichen Einrichtungen? „All das ist fordernd, aber: Es ist notwendig. Und unsere Auseinandersetzung mit dem Thema dokumentiert, dass wir den Kopf nicht in den Sand stecken“, bekräftigt eine Ehrenamtliche und spricht von einer klaren Botschaft: Es ist allen bewusst, dass von einem großen Dunkelfeld ausgegangen werden muss und es somit durchaus möglich ist, dass in dieser Gemeinde wie in allen anderen auch Übergriffe stattgefunden haben. Mit dem Schutzkonzept, das am Ende des Prozesses stünde, werde man sprechfähig. „Klare Regeln schaffen Vertrauen“, ist ein Mitglied des Kirchengemeinderats überzeugt.
Alle Bereiche auf dem Prüfstand
Alle Bereiche gemeindlichen Lebens kommen in dem Gremium auf den Prüfstand. Mögliche Gefährdungsfaktoren werden in der Runde diskutiert. Zum Teil kontrovers diskutiert. „Werden Lücken entdeckt, überlegen wir, welche Maßnahmen ergriffen werden müssen, die Risiken auszuräumen - wer ist zu beteiligen, wer hat welche Rolle in dem Prozess, wer trifft final die notwendigen Entscheidungen“, erläutert eine ehrenamtliche Teilnehmerin. Transparenz hat für die Gruppe bei der Erstellung einer Checkliste Priorität. „Wir möchten, dass die Personen verstehen, weshalb welche Schritte aus unserer Sicht erforderlich sind. Es geht nicht um Stigmatisierung oder Vorverurteilung, es ist kein Aktionismus. Wir wollen sensibilisieren.“
Ortswechsel. Auch in der Kirchengemeinde im Lübecker Stadtteil Kücknitz wird an einem Schutzkonzept gefeilt. Auch hier sitzen Haupt- und Ehrenamtliche seit einem Jahr in regelmäßigen Abständen zusammen. „Als Kirche ist es unsere Aufgabe, sichere Räumen zu schaffen - für Kinder, Jugendliche und Erwachsene“, sagt ein Ehrenamtlicher. Auch für ihn spielt Sensibilisierung eine, wenn nicht die entscheidende Rolle. In der Vergangenheit habe er, hätten viele in der Runde, im Miteinander häufig „aus dem Bauch heraus“ Entscheidungen getroffen. „Allein durch die Arbeit in der Gruppe und das Auf-die-Waagschale-legen und Hinterfragen von Situationen bin ich im Agieren sehr viel bewusster geworden.“
Eine Erfahrung, die eine Kücknitzer Pastorin teilt. „Ich bin sicherer geworden, was das persönliche Setzen von Grenzen anbelangt. Ich sage heute sehr viel direkter, was ich will und was nicht.“
Es gibt keine Masterkonzeption
Eine Masterkonzeption gibt es nicht, dafür sind die Gemeinden zu individuell in Struktur und Angebot. Einige nutzen das Angebot, sich in dem Verfahren unterstützen zu lassen. Andere machen sich selbständig auf den Weg. In Kücknitz begleitet Janina Timmermann gemeinsam mit Jochen Schultz, Leiter der Dienste und Werke des Kirchenkreises, den Prozess. Beide verstehen ihre Aufgabe nicht darin, den Gemeinden Vorgaben bei der Erstellung des Schutzkonzeptes zu machen und Regeln überzustülpen. „Wir stehen beratend zur Seite, beantworten Fragen, geben Impulse“, erläutert Janina Timmermann. Und mitunter zerstreut sie auch Zweifel an der Arbeit.
So wie an diesem Abend im „KirchenForum Alte Post“: Eine Ehrenamtliche, die sich seit vielen Jahren in der Kinderarbeit engagiert, ist hin und her gerissen. „Ich möchte vorsichtig und aufmerksam sein, natürlich. Nichts ist wichtiger als das Wohl von Kindern“, sagt sie. Und doch ist sie in Sorge: „Ich möchte doch auch zukünftig noch ein trauriges oder weinendes Kind trösten dürfen.“ Dass dies natürlich auch zukünftig von keinem Schutzkonzept untersagt wird, steht außer Frage. Nur: Die Frage des Wie ist entscheidend und Bestandteil der wichtigen Diskussionen im Zuge des Sensibilisierungsprozesses. Argumente werden ausgetauscht, Situationen erörtert. Schnell sind sich die Akteure in der Runde einig, was geht, was nicht. Ein weiterer Baustein in Richtung Schutzkonzept ist gesetzt. Für mehr Sensibilisierung. Für mehr Sicherheit.
Ein Interview mit Pröpstin Petra Kallies und mit Janina Timmermann, Leiterin der Fachstelle zur Prävention sexualisierter Gewalt beim Kirchenkreis, lesen Sie hier.