In unserer Kinderarztpraxis hängt ein kleines, gerahmtes Poster, von oben bis unten vollgeschrieben in bunten Großbuchstaben. Ziemlich weit oben steht: „Lass dir Zeit,“ was mir hier im Wartezimmer, eingekeilt zwischen Schniefnasen und Babygeschrei, erst einmal nicht mehr als ein Schnauben entlockt. Aber dann geht es weiter: „Du bist toll.“ – „Das hast Du super gemacht.“ – „Ich werde immer für dich da sein.“ – „Du bist mir wichtig.“ – „Ich bin dankbar für jede Minute, die ich mit Dir verbringen kann.“ So geht es noch eine ganze Weile. Lauter Sätze, die zu hören gut tut. Lauter Sätze die, so nehme ich es an, hier hängen, um mich als Elternteil daran zu erinnern, sie meinem Kind immer und immer wieder zu sagen. Denn Sätze wie diese sind es, die wir von unseren Eltern gehört, erlebt und verinnerlicht haben müssen, um später frei und mutig ins Leben zu gehen.
Ich lese das Poster von oben bis unten durch, einmal, zweimal, viele Male. Mit dem Impftermin dauert es heute etwas. Und mit jedem Durchgang stellt sich bei mir ein neues Gefühl ein. Zunächst Wärme und die Freude, meinem Kind meine Liebe so mitteilen zu können. Dann die Sorge, wie oft ich darin wohl versagen werde. Schließlich wird mein Herz schwer bei dem Gedanken an all die Kinder, denen so etwas selten oder nie von ihren Eltern gesagt wird.
„Vater unser im Himmel,“ beten wir Christen. Wenn ich darüber nachdenke, was Gott über uns sagt, tun wir das nicht von Ungefähr: „Du bist wunderbar und einzigartig gemacht.“ (Psalm 139,15) – „Du hast eine Begabung.“ (1 Petrus 4,10) – „Ich stehe dir bei, wohin du auch gehst.“ (Josua 1,9) – „Nichts kann dich von meiner Liebe trennen.“ (Römer 8,38-39). – „Ich verzeihe dir“ (Hebräer 8,12). All das sind Sätze, die Gott mir zuspricht. Zugegeben, um sie zu hören, muss ich mich auf ihn einlassen und mit der Bibel in der Hand oder in der Gemeinschaft mit anderen Christen nach ihnen horchen. Aber diese Sätze warten auf mich. Und es tut mir gut, sie auch heute noch zu hören, weil sie mich immer noch befreien und mir Mut geben. Allem, was mir an Selbstzweifeln, an Verletzungen, an Begegnungen mit Menschen, die mir das Gegenteil sagen, und an Erfahrungen, die mich das glauben lassen, widerfährt, setzen sie etwas entgegen. Und wenn es heißt: „Mein Vater und meine Mutter verlassen mich, aber Gott nimmt mich auf,“ (Psalm 27,10) gibt mir das Hoffnung für alle, die...
„Familie Otto?“ Die Stimme der Praxishelferin reißt mich aus meinen Gedanken. Wir sind an der Reihe. Schnell blättere ich noch im Impfpass, um nachzuschauen, wogegen der Kleine heute eigentlich geimpft wird. Ich weiß wohl, dass meine Liebe und meine Worte ihn nicht gegen das Schwere, das ihm im Leben begegnen wird, immunisieren können. Aber ich bin dankbar, ihm schon jetzt den Rücken stärken zu können. Und ich bin dankbar, dass diese Sätze für ihn nicht dort enden werden, wo mein Liebe oder mein Leben endet, sondern dass sie ihm von Gott her gelten – ihm und allen anderen Gotteskindern in unserer Gemeinde.