Lübeck. In der Lübecker Carlebach-Synagoge haben Vertreter aus Gesellschaft, Kirche und Politik an die Reichspogromnacht vom 9./10. November 1938 erinnert. Damals schändeten die Nationalsozialisten jüdische Einrichtungen – auch in der Hansestadt. Lübecks Pröpstin Petra Kallies erinnerte in einem Grußwort an das dunkelste Kapitel deutscher Geschichte, bezieht aber auch deutlich Stellung zu antisemitischen Strömungen in der Gesellschaft. Der Beitrag der Pröpstin im Wortlaut.
Der Beitrag im Wortlaut
Alljährlich am 9. November verneigen wir uns vor den Millionen Ermordeten der Shoah. Wir gedenken ihrer – mit Trauer, mit Entsetzen, mit Schmerz. Jeder Jüdin, jedem Juden auf dieser Welt fehlen Personen in der Familiengeschichte, deren Leben ausgelöscht wurde. Einfach nur, weil sie Juden waren.
Und jeder Stolperstein, über den wir uns beugen, beklagt den Antisemitismus, auch in unserer Stadt.
In das Gedenken der Nachgeborenen, deren Groß- und Urgroßeltern, wie meine, zur Tätergeneration gehörten, mischt sich auch Fassungslosigkeit: Wie konnte es überhaupt so weit kommen? Wieso haben die alle geschwiegen, damals?
Als ich als Jugendliche, als junge Frau nachfragte, bekam ich die bekannten Antworten zu hören: „Wir haben davon nichts gewusst.“ Unsinn.
Und wenn ich nicht lockerließ, sagten zumindest manche: „Wir wollten es nicht wahrhaben. Wir haben weggeschaut. Wir hatten Angst um unsere Familie, um unseren Job, um unser Leben. Was hätte es auch gebracht, wenn ich nicht geschwiegen hätte…“
Lange habe ich diese halbherzigen Erklärungen geglaubt. Inzwischen denke ich: das war eben doch nur halbherzig. Hinter diesem Wegschauen stand bei den allermeisten – auch – eine antisemitische Grundhaltung, jahrhundertelang von Generation zu Generation weitergegeben.
Keine Frage der politischen Überzeugung
Antisemitismus hat zunächst nichts mit politischer Überzeugung zu tun. Wir finden ihn im rechten Spektrum ebenso wie im linken. Und auch die sogenannte politische Mitte ist davon nicht frei.
Man gibt es nicht zu, aber wir alle müssen uns fragen, wie sehr Antisemitismus, Rassismus und diverse sogenannte Phobien eben doch in unseren Köpfen herumspuken und damit unser Reden und Handeln – oder meist Nicht-Handeln – beeinflussen. Die Ereignisse, die Reden, die Wahlkämpfe der vergangenen Monate haben das nachweislich ans Licht gebracht.
Kritik an Politik muss erlaubt sein
Der Krieg in Israel, das Leid der von der Hamas Ermordeten und der Entführten, und ihrer Angehörigen bewegt uns sehr und erfüllt uns mit tiefer Trauer. Das Leid der palästinensischen und libanesischen Zivilbevölkerung bewegt uns ebenso und erfüllt uns mit tiefer Trauer.
Ich bin davon überzeugt: Kritik an politischen Entscheidungen muss erlaubt sein, muss auch Deutschen erlaubt sein. Freundschaft erweist sich ja oft auch erst in Krisenzeiten: können Freunde und Freundinnen auch mit unterschiedlichen Meinungen umgehen? Jedoch versteckt sich oft hinter der vorgebrachten Kritik der alte-neue Antisemitismus.
Gewalt gegen Juden ist unerträglich
Jüdinnen und Juden in Deutschland und in Europa werden persönlich angegriffen für politische Entscheidungen, die sie gar nicht zu verantworten haben. Da werden Dinge vermischt, die nichts miteinander zu tun haben.
Die gezielte Gewalt gegen jüdische Menschen und jüdische Einrichtungen ist eine weitere Eskalation. Die Gewalt gegen jüdische Fußballfans in Amsterdam ist leider nur ein extremes Beispiel.
Deutschlands Botschafter in Israel, Herr Steffen Seibert, hat dazu alles Wichtige in zwei Sätzen gesagt: „Israelische Fußballfans zu verfolgen und zu verprügeln ist kein Antikriegsprotest. Das ist kriminell und unerträglich.“ Gegen Kriminelle vorzugehen, ist Aufgabe des Staates.
Botschafter Seibert fügte aber auch hinzu: „…und wir alle müssen dagegen aufstehen.“
Im Frühjahr fragte ich einen Juden, wie es ihm gehe nach dem Überfalls vom 7. Oktober und dem Krieg im Gaza-Streifen. Seine Antwort hat mich sehr betroffen gemacht: „Wir versuchen, uns unauffällig zu verhalten.“
Genau das ist es, was ein antisemitisches und rassistisches gesellschaftliches Klima ausmacht: Wenn Personengruppen in unserem Land unfrei gemacht werden, weil es für sie No-Go-Areas gibt, weil sie aus Angst um Leib und Leben ihren Glauben, ihre Sprache oder ihre Kultur verstecken müssen. Wenn sie erleben, dass das Besondere, das sie in unsere Gesellschaft einbringen könnten, vielerorts nicht gewünscht ist.
Wir müssen Klartext sprechen
So schaut es aus in der bundesdeutschen Gesellschaft, 86 Jahre nach der Reichspogromnacht, einer Gesellschaft, die sich doch mehrheitlich als liberal und weltoffen versteht. Wir müssen noch viel, viel mehr darüber reden – und Klartext sprechen über das, was geht und was überhaupt nicht geht.
Sie haben mich für heute um ein Grußwort gebeten; für diese Ehre danke ich Ihnen sehr.
Ich bin Theologin, Pastorin. Alles, was ich bisher gesagt habe, hätte ich auch als „normale“ Bürgerin sagen können. Ich kann das nicht trennen. Glaube tut der Seele gut – aber er erweist sich im Alltag. Lebe ich das vor, was ich glaube und was ich predige?
Ich denke, dass ich nicht nur für die evangelisch-lutherische Kirche, sondern auch für die anderen Mitglieder der „Arbeitsgemeinschaft christlicher Kirchen“ spreche, wenn ich sage, dass wir fest an der Seite ihrer Gemeinde und Gemeinschaft stehen. Was Sie betrifft, betrifft auch uns.
Es ist an der Zeit, die theologische Wahrheit noch viel öfter und viel öffentlicher zum Ausdruck zu bringen: Antisemitismus und Christentum schließen einander aus. Punkt.
Heute, am 9. November, gedenken wir der Ermordeten, der Opfer der Shoah. Wir verneigen uns und halten inne. „Nie wieder!“ sagen wir. Das ist ein Bekenntnis, ein Versprechen. Es ist an der Zeit, es einzulösen. #niewiederistjetzt