Lübeck. Pastor Heiko von Kiedrowski verlässt zum Jahresende die Kirchengemeinde in St. Jürgen in Lübeck. Im Januar 2024 übernimmt der 53-Jährige die Leitung des Evangelischen Rundfunkreferats beim NDR in Hamburg. Ein Interview.
Abschied von St. Jürgen - ein Interview
Sie sind seit fast 17 Jahren Pastor in der Kirchengemeinde in St. Jürgen. Eine lange Zeit. Blicken wir einmal zurück: Was ist eine Ihrer ersten Erinnerungen?
Heiko von Kiedrowski: Als ich 2007 das erste Mal das Gemeindehaus St. Martin betrat, dachte ich: Hui, worauf hast du dich da nur eingelassen … (lacht)
Das müssen Sie erklären...
Das Gemeindehaus in der Kastanienallee war wie im Dornröschen-Schlaf - es wirkte alles ein bisschen dunkel und bedrückend. Aber dieser erste Eindruck hielt nicht lang an. Sehr schnell erlebte ich, wie aufgeschlossen die Menschen hier sind. Ich erlebte einen Kirchenvorstand, der sich mit Argumenten überzeugen ließ, der den Mut hatte, auch Risiken einzugehen. Die Fusion aus vier Kirchengemeinden war erst zwei Jahre her und ich war der erste Pastor, der für die ganze Kirchengemeinde in St. Jürgen gewählt wurde - sprich: die gesamte Gemeinde im Blick haben konnte und nicht nur den einzelnen Bezirk.
Blicken Sie auf Ihre Zeit in St. Jürgen zurück, befand sich die Kirchengemeinde eigentlich in einem permanenten Wandelungs- und Veränderungsprozess. War das eine Belastung?
Streng genommen befindet sich die Kirche in einem permanenten Veränderungsprozess seitdem ich Pastor bin. Die Kirche, für die ich mich in den 1980er-Jahren entschieden hatte, Theologie zu studieren, gab es schon nicht mehr. Seit Dienstbeginn begleitet mich „Change Management“. Aber wenn sich Menschen darauf einlassen, eröffnet das auch Gestaltungsspielräume. Was ich nicht mag, ist es, mich ins Jammertal zu hocken und zu sagen, wir werden immer weniger, kleiner und haben gar kein Geld mehr. Das hilft niemandem, schon gar nicht einer Kirchengemeinde. Viel wichtiger ist, in solchen Momenten der Frage nachzugehen, was man mit den vorhandenen Mitteln machen kann, um ein aktives Gemeindeleben zu gestalten, um Menschen zu erreichen. Der Wechsel von der Selbstverständlichkeitskirche in eine Minderheitssituation bietet auch Chancen, Kirche und Gemeinde neu zu denken.
In schwierigen Zeiten wird es mitunter hässlich
In den vergangenen zwölf Monaten war St. Jürgen wegen des geplanten Gebäudekonzeptes in den Schlagzeilen. Immer wieder standen Sie im Fokus der Kritik. Wie belastend war das Sie?
Natürlich ist das persönlich belastend. Ein Teil der Aufgabe von Pastor:innen ist aber die Leitung. Und in schwierigen Zeiten wird diese Aufgabe mitunter auch mal hässlich. Ich glaube, jeder Berufsanfänger hat am Anfang seiner Laufbahn das Gefühl, ich schaff es, das mich alle lieben, weil ich es ja gut meine mit den Menschen. Ich meine es bis zum heutigen Tag gut mit den Menschen, aber ich habe gelernt, dass mich trotzdem nicht alle lieben. Weil ich manchmal für Dinge verantwortlich gemacht werde, für die ich nichts kann, die einfach umgesetzt werden müssen.
War dies der Grund, jetzt die Kirchengemeinde zu verlassen?
Nein, ganz und gar nicht. Tatsächlich bin ich in den vergangenen Jahren mehrfach gefragt worden, ob ich mir nicht vorstellen könnte, eine der Stellen als Radiopastor zu übernehmen. Das habe ich immer abgelehnt - mit den Worten, man möge mich noch einmal fragen, wenn der Leiter des Rundfunkreferats in Ruhestand geht. Naja, und genau das ist nun passiert. Tatsächlich war das Timing für diesen Wechsel nicht optimal, aber es gibt wirklich keinen Zusammenhang.
Radio und TV für den Norden
Beschreiben Sie mal, was Sie künftig machen werden...
Der öffentlich-rechtliche Rundfunk wie der NDR räumt den Religionsgemeinschaften Sendezeiten in ihrem Programm ein, und diese Programme werden für die acht evangelischen Kirchen im Sendegebiet vom evangelischen Rundfunkreferat verantwortet. Das Rundfunkreferat produziert jährlich meist drei Fernsehgottesdienste mit ca. 600 000 Zuschauenden, 25 Radiogottesdienste mit ca. 260 000 Hörenden und mehr als 2500 Radioandachten und journalistische Beiträgen. Wir erreichen so pro Tag 2,5 Millionen Menschen - auch solche, die nicht in den Sonntagsgottesdienst kommen. Das ist eine Bank. Meine Aufgabe wird künftig sein, all das zu koordinieren, zu planen und - worauf ich mich ebenfalls sehr freue - weiter zu entwickeln. Immer weniger Menschen nutzen Fernsehen so, wie es im Programmheft steht. Es entwickelt sich weg von der linearen Ausstrahlung, hin zu digitalen Projekten, zu Podcasts und Mediatheken.
Mir werden die direkten Begegnungen fehlen
Was wird Ihnen fehlen?
Ich freu mich darauf, dass manches an Druck und Verantwortung abfällt. Ich freue mich auf andere Arbeitszeiten, regelmäßig freie Wochenenden. Gleichwohl wird das nach 16 Jahren in St. Jürgen auch eine ganz neue Herausforderung werden. Ich habe leidenschaftlich gern Jugendarbeit zusammen im Team gemacht und Taufen, Trauungen oder Trauerfeiern gestaltet. Für so viele Menschen, Erwachsene und Jugendliche, durfte ich ein Teil ihres Lebens sein und unzählige haben sich in die Gemeinde eingebracht. Open Air-Gottesdienste zu Pfingsten, die großen Krippenspiele, die Fahrten zum Koppelsberg mit Konfis und Teamern – das hat mit alles unglaublich viel Spaß gemacht. Und die Vorstellung, an den hohen christlichen Feiertagen vielleicht mal keinen Gottesdienst zu haben, ist sehr gewöhnungsbedürftig. Dieses Gefühl, Weihnachten aus dem Pastorat herauszutreten, die Glocken läuten, die Menschen freuen sich auf das Fest und auf den Gottesdienst - das ist unbeschreiblich. Mir wird die direkte Begegnung mit Menschen fehlen.
Was wünschen Sie der Kirchengemeinde in St. Jürgen?
„Prüfet alles und das Gute behaltet“ – steht schon in der Bibel. Es wird sich ganz bestimmt vieles verändern. Das muss auch so sein. Ich wünsche mir, dass es andere Ideen, neue Ideen gibt. Vor allem wünsche ich der Kirchengemeinde in St. Jürgen, dass sie ein offen, neugierig und bunt bleibt - und dass sie auch weiterhin die im Blick hat, die Sonntagmorgen um 10 Uhr nicht zum Gottesdienst in der Kirchenbank sitzen.
Abschiedsgottesdienst in St.-Martin-Kirche
Heiko von Kiedrowski wird am 14. Januar 2024 als Pastor der Kirchengemeinde in St. Jürgen offiziell in einem Gottesdienst verabschiedet. Beginn ist um 14 Uhr in der St.-Martin-Kirche. Bei der „Evangelischen Kirche im NDR“ tritt der 53-Jährige aus Lübeck die Nachfolge von Pastor Jan Dieckmann an, der nach 25 Jahren in den Ruhestand verabschiedet wird.