Schule, Freizeit, Erwachsen werden: Alles ist anders für Jugendliche und junge Erwachsene in der Corona-Krise. Jung sein in der Pandemie - darauf blicken Befragungen und Studien ganz allgemein. Holger Wöltjen, Leiter des Jugendpfarramtes, zeichnet ein detaillierteres Bild aus seiner Arbeit mit und für Jugendliche und junge Erwachsene - ein Interview über Veranwortung, Zerrissenheit und einen hohen Preis.
Wie geht es den jungen Menschen in Lübeck und im Lauenburgischen gerade?
Ich glaube, innerlich sind sie hin- und hergerissen. Einerseits gibt es eine hohe Bereitschaft, sich an die Maßnahmen zu halten. Anderseits würden viele gerne wieder „ausbrechen, in Freundschaften und Hobbys investieren. Diese Ambivalenz erleben ja gerade viele. Das ist auch für die Jugendlichen Realität.
Haben die Jugendlichen denn noch Verständnis für die Welt?
Ja, das ist sogar eher größer geworden. Natürlich gibt es Jugendliche, die sich jetzt zurückziehen. Es gibt aber auch viele, denen Themen gerade wichtig geworden sind, wie zum Beispiel Umweltschutz. Pubertäre Ignoranz ist in der Krise schwer durchzuhalten. Zusammenhänge werden klarer. Es gibt einen hohen Blick für andere. Verantwortung ist ein Riesenthema.
In Ihrer Antwort steckt die Nachricht, dass Jugendliche jetzt früher erwachsen werden müssen?
Es wird zumindest etwas von ihnen verlangt, was ganz schwer ist: In einer Situation, in der man das Leben ausprobieren muss, wird von ihnen Reife erwartet, die sie noch gar nicht entwickeln konnten. Im Prinzip wird gerade eine Entwicklung massiv abgekürzt. Egal ob 13 oder 25: Jetzt muss man plötzlich ganz vieles. Dabei sind die Jugendlichen seit März gar nicht zu Themen gefragt worden, die für sie relevant sind: Schule etwa oder Freizeitgestaltung. Die Jugendlichen kommen im öffentlichen Diskurs nicht vor. Das ist schwer zusammenzubringen.
Mit welchen Gefühlen kommen denn die Jugendlichen sonst noch zu Ihnen?
Mit viel Druck. Es gibt einen Riesendruck, alles nachzuholen, zum Beispiel in der Schule. Und es herrscht eine große Perspektivlosigkeit. Pläne für die Zukunft, verrückte Ideen, Kreativität: Das ist alles gerade verschwunden. Ich kenne kaum Jugendliche, die über die nächsten zwei Wochen hinausdenken. Fiese Kombination: Druck in der Gegenwart, ein sehr eingeschränkter Rahmen, und dann ist wenig zu sehen, was im Frühjahr oder nach der Schule möglich sein könnte. Die Angst um die berufliche Zukunft ist da noch gar nicht mit drin. Das wird aber auch noch dazu kommen: Angst um Ausbildungsplätze, Angst um Studienplätze zum Beispiel. Und viele sind auch sauer, weil sie immer gesagt bekommen, sie sollen nicht so viel feiern. Dabei schränken sich viele Jugendliche gerade massiv ein. Und bekommen trotzdem noch auf die Mütze.
Schwingt da auch Wut mit?
Das nehme ich nicht wahr. Das ist aber auch gar nicht der Punkt. Die Jugendlichen sind desillusioniert. Haben ein Gefühl von „keine Ahnung“. Das ist aber auch eine Strategie, um seine Energie gerade nicht zu verschwenden. Das ist ja eigentlich eine ganz kluge Strategie. Man weiß ja wirklich nicht, was kommt.
Sehen Sie heute schon Langzeitauswirkungen dieser Krise?
Ich habe Sorge um Langzeitauswirkungen. Ich bin 42 Jahre alt. Wenn ich ein Jahr meines Lebens abhaken kann, ist das ärgerlich, aber nicht so dramatisch für mich. Aber es ist aber ein Unterschied, wenn das Jugendlichen passiert. Diese Jahre sind viel wichtiger für ihre Persönlichkeitsentwicklung. Und es geht um die Freiheiten, die das Jugendalter ja auch bietet. Wenn Jugendliche diese Zeit hergeben müssen, hat das größere Folgen als bei mir. Die haben zwar dadurch kein Trauma, aber ihnen wird etwas fehlen. Das kann irgendwann Auswirkungen haben. Ich kenne junge Menschen, die sind zum Studium nach Lübeck gekommen, und haben jetzt keine Chance, soziale Kontakte zu knüpfen oder gar eine Beziehung einzugehen. Ich kann mir gut vorstellen, dass die jungen Leute später sagen: Ich habe auf ganz viel verzichtet, jetzt höre mir mal zu, wenn es um die Dinge geht, die mir wichtig sind. Möglicherweise werden bald die Anfang 20-jährigen etwas fordern, was sonst die Anfang 30-jährigen gefordert haben.
Das kann ja auch eine Chance für eine Gesellschaft sein.
Auf jeden Fall, da steckt viel Dynamik drin. Die Jugendlichen könnten sagen: „Wir haben verzichtet, Ihr habt über uns bestimmt. Jetzt steht eine neue Krise vor der Tür, jetzt bestimmen wir mit.“ Darauf hoffe ich jedenfalls.
Wie sollten wir denn Jugendliche gerade sehen?
Überlegt auch jetzt, wie Ihr Jugendliche in die Entscheidungen einbinden könnt, die getroffen werden müssen. Es muss kreativ darüber nachgedacht werden, wie Einbindung passieren kann. Und wir sollten wahrnehmen, welchen Preis Jugendliche gerade für uns zahlen. Die kapieren, dass sie andere jetzt schützen müssen. Das sollten wir mehr wertschätzen. Die Jugendlichen haben voll verstanden, was jetzt wichtig ist.
Interview: Oliver Pries