Lübeck. Eine gute Aussicht gehört für den Lübecker Kirchenmusiker Norbert Drechsler zum Beruf. Als Glockensachverständiger besteigt er auch im Kirchenkreis Lübeck-Lauenburg regelmäßig Kirchtürme. Fachwissen zu Herstellung und Pflege der Glocken, Zusammenklang, Einbau und Läuteordnungen - in all dem berät Drechsler die Kirchengemeinden.
Das Interesse für diesen Teilbereich der Kirchenmusik erwachte bei ihm während des Studiums. Seine Abschlussarbeit schrieb er über die historischen Glocken von St. Jakobi in Lübeck. Gleich nach dem Studium begann er auch seine Tätigkeit als Sachverständiger. „Jede Glocke ist ein eigenes Kunstwerk“, beschreibt er seine Faszination. Nicht nur sind sie handwerklich hergestellt und mit Bildern und Inschriften verziert. Auch Klang und Rhythmus jeder Glocke sind individuell.
Ein Arbeitstag im Glockenturm
Wie ein typischer Arbeitstag aussieht, zeigt Norbert Drechsler oben im Turm „seiner“ St.-Johannes-Kirche in Kücknitz. Als wichtigstes Arbeitswerkzeug hat er spezielle Stimmgabeln dabei, mit denen er die Glockentöne prüfen kann. Dafür kann er die Gabel auf die vermutete Frequenz einstellen. Dann bringt er sie mit einem kleinenGummihammer zum Schwingen und hält sie an die Glocke. Ein wenig an der Stimmgabel nachjustieren, wieder gibt es einen Schlag mit dem Hammer. Als er nun die Stimmgabel an die Glocke hält, gibt die Glocke deutlich hörbar Resonanz. Das eindeutige Zeichen, dass die Tonhöhe gefunden ist.
Der Glockenklang entsteht allerdings aus dem Zusammenspiel verschiedener Teiltöne. Neben dem "Schlagton", den das menschliche Ohr als Hauptton der Glocke ausmacht, treten einige von ihnen deutlich hörbar hervor. Norbert Drechsler kann auch diese Teiltöne mit Hilfe seiner Stimmgabeln hervorbringen.
Die „Glocken-Rekorde“ des Kirchenkreises
Neuere Glocken wie die in St. Johannes (von 1910, 1950 und 2005) haben in der Regel ausgewogenere Teilton-Spektren. Ältere Glocken können da starke Abweichungen im Klang haben. Das zeigt sich bei den ältesten Geläuten in Lübeck und Lauenburg. Die ältesten Instrumente Lübecks sind die Katharinen-Glocke im Dom (1481) und die sogenannte Salvator-Glocke von St.-Jakobi (1507). In der Möllner St.-Nikolai-Kirche hängt das größte geschlossen erhaltene mittelalterliche Großgeläut der Nordkirche mit vier Glocken von 1468 und 1514. Das größte Geläut des Kirchenkreises hat St. Marien Lübeck mit neun Glocken.
Herstellung nach traditionellem Verfahren
Reparaturen, Restaurierungen oder Ersatz defekter Glocken gehören zum Alltag des Sachverständigen. Weniger der solide Glockenkörper, sondern vor allem der elektrische Antrieb, die Klöppel oder die Krone - also die Ösen zum Aufhängen - sind dabei anfällig. Aber selbst Risse in der Glocke können heutzutage von spezialisierten Firmen repariert werden. Wichtig ist Drechslers Expertise vor allem beim Neuguss, denn allein das Material für eine neue Glocke kostet pro Tonne rund 20.000 Euro. Bei mehreren Tonnen Gewicht für größere Glocken kommen schnell hohe Summen zusammen. Die vier verbliebenen Gießereien in Deutschland arbeiten nach dem traditionellen Guss-Verfahren. „So wie es in Schillers berühmten Gedicht beschrieben ist“, sagt Drechsler.
Dabei kommt es auf das richtige Material an. „Ideal ist eine Zusammensetzung aus 78% Kupfer und 22% Zinn“, erklärt Drechsler. Aus der Not wurden oft minderwertige Glocken aus Eisen hergestellt, vor allem im Osten stößt der Sachverständige immer wieder darauf. Aber nicht immer muss es eine neue Glocke sein. Aus entwidmeten Kirchen finden die Glocken immer wieder ein neues Zuhause. Auch von den „Glockenfriedhöfen“, auf denen Glocken für das Einschmelzen gesammelt wurden, wurden etliche Instrumente vermittelt.
Auf den Zusammenklang kommt es an
Natürlich muss die neue Glocke immer zum bestehenden Geläut passen. Die Schlagtöne der Glocken sollten im Ganzton- oder Terzabstand aufeinander aufgebaut sein. Im Idealfall passen sogar die Geläute benachbarter Kirchen zueinander. Als Norbert Drechsler für die katholische Pfarrkirche Herz-Jesu in Lübeck als Berater konsultiert wurde, achtete er auf den guten Zusammenklang mit dem Dom direkt nebenan.
Ebenso wichtig wie der Zusammenklang aller Glocken ist die Vielfalt der Klangbilder eines Geläuts. Verschiedene Anlässe müssen klanglich zu unterscheiden sein. Auch dies muss bei einer Neuanschaffung mitbedacht werden. „Ob es sich um das Mittagsläuten oder um ein Begräbnisgeläut handelt, muss man gleich am Klang erkennen können“, sagt Drechsler. So sind die Glocken auch immer Teil der Verkündigung.
Immer wieder Überraschungen in den Glockentürmen
Auch nach vielen Jahren als Sachverständiger erlebt Norbert Drechsler immer wieder Überraschungen. In der Lübecker Lutherkirche sollten laut Bestandsliste eigentlich vier moderne Glocken hängen. Stattdessen fand Drechsler drei historische Exemplare aus Danzig, die vor dem Einschmelzen zu Kriegszeiten gerettet wurden. Die Vierte stellte sich als eine Glocke von 1510 aus dem ehemaligen Burgkloster heraus, die als verschollen galt. Sie läutet nach ihrer Restaurierung jetzt zusammen mit drei Glocken aus einer entwidmeten Hamburger Kirche.