Wir diskutieren schon seit fast einer halben Stunde, aber die meisten Konfirmanden sind noch immer konzentriert bei der Sache. Es geht um Herbert. In Wirklichkeit heißt er anders. Ich habe ihn in meiner Zeit als Ehrenamtlicher im Justizvollzug kennengelernt: Herbert ist Sexualstraftäter, seit bald 40 Jahren hinter Gittern, ohne jede Reue – mittlerweile hochbetagt und sterbenskrank – auf dem Papier noch immer gemeingefährlich. Was hat ein solcher Mensch verdient? Kann ein Mensch das Recht auf Menschlichkeit verlieren? Oder verdient er gar Zuwendung und Freundlichkeit, eine liebevolle Begleitung in den Tod? Müsste er dazu nicht wenigstens Reue zeigen? Was, wenn er gar nicht in der Lage ist, seine Schuld überhaupt erst wahrzunehmen?
Ein gedanklicher Ausflug in Abgründe, die nicht in unseren Alltag gehören, aber doch in unsere Wirklichkeit. In die verzauberte Geschäftigkeit der kommenden Wochen mit ihrem Lichterfunkeln und ihrem Plätzchenduft scheint all das nicht recht zu passen. Trotzdem schreibe ich darüber.
Denn das „Fest der Liebe“ ist mehr als ein wohliges Kindheitsgefühl. Es ist auch eine Zumutung. Wir sollen glauben, dass der, den wir sonst allmächtig nennen, hilflos zappelt und weint. Wir sollen glauben, dass diese ungreifbare philosophische Idee, die wir „Gott“ nennen, nach Milch suchend in einer Futterkrippe liegt. Und wir beginnen zu ahnen, dass dieser plötzlich greifbare Gott ernst mit dem macht, was wir immer von ihm gehört haben: Radikale Annahme. Gnade, die wehtut.
Denn das Kind ist mit seinem Lächeln nicht wählerisch. Wer auch immer über den Rand der Krippe sieht, den strahlt es an, ganz egal, was wir von jenem Menschen denken. Und mit seinen Augen schaut es bis auf den Grund der Seele. Das Neugeborene wird sein ganzes Leben damit verbringen, Menschen dadurch zu brüskieren, dass es bedingungslos liebt und zugleich jede Untat beim Namen nennt und uns zur Umkehr ruft. Gott lässt sich auf uns ein, ehe wir bereit für ihn sind. Jesu Weg führt von der Krippe ans Kreuz und noch am Kreuz verspricht er einem Verbrecher das Himmelreich.
Mit Weihnachten beginnt eine Geschichte von Zuwendung, die uns zuallererst erkennen lässt, dass da etwas ist, was wir bereuen müssten. Eine Geschichte von Freundlichkeit, die nichts mit dem zu tun hat, was wir geleistet oder verbrochen haben. Und von schneidender Ehrlichkeit, die uns nicht weniger einen Spiegel vorhält als den Herberts dieser Welt. Jedes Türchen im Adventskalender stellt uns Jahr um Jahr die gleiche Frage: Sind wir dieses Mal bereit für so ein „Fest der Liebe“?
Vielleicht sind wir es manchmal. Die Konfirmanden kommen in ihrem Gespräch zu keinem klaren Ergebnis. Es bleibt ambivalent. Umso mehr überrascht es mich, wie einhellig die Meinung zu meiner nächsten Frage ist: Bei der Idee, gemeinsam Weihnachtspakete über das „Schwarze Kreuz“ an Strafgefangene zu schicken, deren Geschichte wir vorher nicht kennen (naechstenliebe-befreit.de), schnellen die Hände in die Höhe: „Die haben doch an Weihnachten eine Freude verdient – ganz egal, ob sie das verdient haben!“ Ja, genau. So wie wir. „Christ, der Retter, ist da.“
Ihr und Euer Pastor Konrad Otto