Mölln. Vor 30 Jahren verübten Neonazis in Mölln zwei Brandschläge auf Häuser in der Ratzeburger Straße und in der Mühlenstraße. Drei Menschen türkischer Herkunft kamen dabei ums Leben: die 51-jährige Bahide Arslan sowie zwei ihrer Enkelinnen, die 10-jährige Yeliz Arslan und die 14-jährige Ayse Yilmaz. Die Gedenkfeiern zum Jahrestag zeigen, dass die Wunden nicht verheilen.
Gedenken zum 30. Jahrestag
Es ist eine Stille, die beladen ist - beladen mit Wut, Trauer, Fassungslosigkeit, Bestürzung, Respekt und Nachdenklichkeit – am Abend des 23. November in der dunklen Gasse vor dem Brandhaus in der Mühlenstraße 9 in Mölln. Dann ist die helle und klare Stimme von Hülya Araz zu hören. Sie ist die Schwester von Ayşe Yilmaz, die vor 30 Jahren im Alter von 14 Jahren hier bei einem rechtsextremistischen Brandanschlag starb. Ayşe Yilmaz war 1992 zu Besuch bei ihrer Großmutter in Mölln. Mit bebender Stimme schildert ihre Schwester auf türkisch - von einer Übersetzerin ins Deutsche übertragen -, wie die Familie den Sarg nach der Rückführung der Leiche in der Türkei öffnete und das vertraute Lächeln auf dem Gesicht des Mädchens sah.
Opfer müssen eine Stimme bekommen
Auch Ali Aygün spricht an diesem Abend umgeben von Kränzen und Blumen vor dem Brandhaus. Er überlebte den Anschlag auf das Haus in der Ratzeburger Straße, der in derselben Nacht im November 1992 von Neonazis verübt wurde. Aygün schildert, wie die Bewohner des Hauses aus dem Fenster sprangen, wie er selbst Kinder auffangen musste und die Erinnerungen daran bis heute nicht loswird: „Ich musste meinen Sohn auffangen, danach meine Nichte und wir haben die Personen im dritten Stock angefleht, nicht runterzuspringen. Ich habe immer noch das Geschrei meines Schwagers in den Ohren, wie er ruft: ‚Ich springe runter‘ – wir haben schon das Feuer im Zimmer gesehen.“ Mithilfe einer Leiter konnte der Schwager gerettet werden. Aygün mahnt dazu, den Opfern eine Stimme zu geben.
Ein bewegender Auftritt ist auch der von Peter Kelm. Er war vor 30 Jahren als Rettungssanitäter im Einsatz und trägt ein Lied vor, in dem er schildert, wie die 10-jährige Yeliz Arslan in seinen Armen starb und wie ihn der Schmerz bis heute begleitet. „Wir müssen den Opfern zuhören und verstehen lernen“, so Kelm und er erwähnt die Stigmatisierungen und Verleumdungen, die die Familien Arslan und Yilmaz nach den Anschlägen erlebt haben.
Interreligiöser Gottesdienst in St. Nicolai
Beim interreligiösen Gottesdienst in St. Nicolai mit Bischöfin Kirsten Fehrs, Propst Philipp Graffam und zahlreichen Politiker:innen steht zuvor ein Gedanke im Mittelpunkt: Nie wieder.
„Diese Wunde ist auch nach 30 Jahren nicht geschlossen und wird es wohl auch nie sein. Die Trauer bleibt, die Verletzungen und Kränkungen bleiben und ermahnen uns, wachsam zu sein, dass solch furchtbares Unrecht nie wieder geschieht.So bringen wir gemeinsam vor Gott unsere Trauer, unser Entsetzen, unsere Wut, aber auch unsere Solidarität.“ so Propst Graffam in seinem Grußwort. In den ersten Reihen sitzen die Angehörigen der Opfer, die Familien Arslan und Yilmaz. Ibrahim Yilmaz war damals ein kleiner Junge. Seine Großmutter Bahide rettete ihn aus den Flammen, indem sie ihn in nasse Tücher wickelte. Bahide selbst überlebte den Anschlag nicht. Ihr Enkel setzt sich seit Jahren für eine gemeinsame Erinnerungskultur in der Stadt ein.
„Scham über die Menschenfeindlichkeit“
Auch Kulturstaatsministerin Claudia Roth spricht von den offenen Wunden: „Der Schmerz der Familien muss unser aller Schmerz sein“. Und sie erwähnt die grenzenlose „Scham über die Menschenfeindlichkeit und die Gleichgültigkeit, mit der darüber hinweggegangen wurde, über den Umgang mit den Opfern und ihren Angehörigen.“
Nachdem der Imam der Möllner Sultan-Moschee Suren aus dem Koran rezitiert hat, wendet sich auch Bischöfin Kirsten Fehrs an die Angehörigen und die Gemeinde. Sie fragt, was aus den drei Ermordeten hätte werden können, welches Leben sie hätten führen können. „Yeliz Arslan, Ayse Yilmaz und Bahide Arslan - sie rufen uns mit ihrer Stimme immer wieder neu in die Verantwortung. Damit Hass und Menschenverachtung nicht ohne Widerspruch bleiben. Damit Menschen bei uns Heimat finden, ganz unabhängig von Aussehen, Nationalität, Religion oder welchen Unterschieden auch immer“, sagt Fehrs eindringlich.
Bischöfin Fehrs: „Gewalt unterbinden“
Auch die Bischöfin mahnt: „Wir sind alle gemeinsam verantwortlich dafür, dass Gewalt unterbunden und Menschenrechte geachtet werden. Sind verantwortlich für eine Kultur, die einen 23. November 1992 nie vergisst. Weil nur eine gedenkende Gesellschaft auch eine nachdenkliche und demokratische sein kann. Und so gebührt Respekt auch jenen, die hier in und um Mölln diese Verantwortung mit Worten, Gesten und Taten übernehmen, seit 30 Jahren schon.“