Kirchenkreis Lübeck-Lauenburg Karl Ludwig Kohlwage wird 90: "Ich habe die Diskussion nie gescheut"

Karl Ludwig Kohlwage, emeritierter Bischof für den Sprengel Holstein-Lübeck der Nordelbischen Evangelisch-Lutherischen Kirche (1991 – 2001), feiert seinen 90. Geburtstag. Copyright: Bastian Modrow

Lübeck. Karl Ludwig Kohlwage, emeritierter Bischof für den Sprengel Holstein-Lübeck der Nordelbischen Evangelisch-Lutherischen Kirche, feiert seinen 90. Geburtstag. Mit einem Festgottesdienst am 31. März 2023 ab 11 Uhr im Dom zu Lübeck ehrt die Nordkirche den Theologen. „Karl Ludwig Kohlwage war in Zeiten schwieriger gesellschaftlicher Umbrüche mit seiner klaren christlichen Haltung Halt und Vorbild für viele Menschen“, würdigt Kristina Kühnbaum-Schmidt, die Landesbischöfin der Nordkirche, den Jubilar in einem persönlichen Gratulationsbrief. In einem Interview spricht Karl Ludwig Kohlwage über Stationen seines Lebens.

Ein Interview mit dem Altbischof

Herr Altbischof, wenn Sie heute zurückblicken: Was war für Sie als Seelsorger in all den Jahren besonders ergreifend?

Karl Ludwig Kohlwage: Ich denke an die vielen Begegnungen mit Heimatvertriebenen: wie Menschen mit ihrem Schicksal umgehen, alles stehen und liegen lassen, trotzdem nicht den Mut verlieren und stattdessen die Kraft finden, an einem fremden Ort neu anzufangen. Das hat mich seit meiner Kindheit geprägt, beeindruckt, ergriffen. Ich erinnere die Menschenströme, die durch Lübeck zogen, noch sehr genau. Später, als junger Pastor in Flensburg, waren drei große Flüchtlingslager mit Vertriebenen des Zweiten Weltkriegs quasi meine erste Gemeinde.

Was fühlen Sie heute, wenn Sie aktuell Bilder von Geflüchteten aus der Ukraine sehen?

Es sind Bilder und Schicksale, die mich berühren. Ich war als junger Pastor mit dem Leid des Zweiten Weltkriegs konfrontiert. Es ist klar, dass wir die ukrainischen Flüchtlinge aufnehmen müssen. Das ist eine christliche Verpflichtung - ebenso wie unser Bekenntnis zu Menschenrechten und zum Asylrecht. Jeder Mensch, dessen Leib und Leben in Gefahr ist, muss geschützt werden.

Gibt es eine Entscheidung als Bischof, auf die Sie besonders stolz sind?

Ja. Wir haben uns als Nordelbische Kirche sehr früh und sehr deutlich zu der in Lübeck neu gegründeten Gemeinde in der Jüdischen Synagoge bekannt. Das war und ist mir immer außerordentlich wichtig gewesen. Es ging um ein klares Signal: Sie gehören zu uns. Wir gehören zusammen. Natürlich hat dies etwas mit meiner eigenen Geschichte zu tun: Ich bin Lübecker und ich habe 1938 als junges Kind miterleben müssen, wie die Synagoge geplündert wurde. Das Bild habe ich noch sehr genau vor Augen, wie aus dem Haus nebenan Sachen aus dem Fenster flogen und auf dem Vorplatz landeten. Wie Menschen auf der Straße davor standen und nichts sagten.

Eine zentrale Erfahrung der Versöhnung

Sie haben als Kind die Bombenangriffe der Alliierten auf Lübeck miterleben müssen. Das hat auch Ihr Wirken als Bischof geprägt...

Natürlich. Ich erinnere mich an einen besonderen Gottesdienst aus dem Jahr 1992: 50 Jahre nach Palmarum 1942, dem Angriff auf Lübeck, den ich als neunjähriger Junge miterleben musste. Wir standen gemeinsam am Altar - der Engländer Stephen Sykes, Bischof von Ely, der Partnerdiözese der Nordelbischen Kirche. Zusammen mit dem Rabbiner Carlebach aus Manchester, dem Neffen des letzten Lübecker Rabbiners, der 1941 mit seiner Gemeinde in die Todeslager des Baltikums deportiert wurde, und ich, der deutsche Bischof. Wir haben gemeinsam „Herr, erbarme Dich“ gesungen. Das war für mich eine zentrale Erfahrung von Versöhnung. Für mich war und ist bis heute wichtig, dass wir als Kirche etwas dazu sagen, was damals im Dritten Reich passiert ist. Für mich gehörte dazu auch die Rehabilitation des 1942 von der Nazi-Justiz hingerichteten evangelischen Pastors Karl-Friedrich Stellbrink, einem der Lübecker Märtyrer, den wir zusammen mit den drei Kaplänen der katholischen Gemeinde zu den Vätern der Ökumene im einst konfessionell streng getrennten Lübeck zählen und ehren.

Es war richtig, Haltung zu zeigen

Sie haben als Bischof stets Flagge gezeigt, sich immer wieder gesellschaftlich und auch politisch eingemischt...

...weil es mir immer wichtig war, dass Kirche eine Position hat. Ich habe Diskussionen nie gescheut. Die frühen 1990er-Jahre waren beispielsweise eine sehr bewegte Zeit. In Lübeck gab es den Brandanschlag auf die Synagoge, das verheerende Feuer in einer Unterkunft in der Hafenstraße. Wir haben damals eine Demonstration organisiert. Ich habe öffentlich und auch zur Politik gesagt: Wir dürfen nicht einknicken und müssen klar Stellung beziehen. Die Folge war ein Brandanschlag auf das Gartenhaus meines Bischofssitzes. Wir sind nachts von der Feuerwehr geweckt worden. Es gab anonyme Telefonanrufe, die Fenster wurden mit Hakenkreuzen beschmiert. Ich habe mehrere Monate lang vom damaligen Innenminister polizeilichen Personenschutz bekommen. Das war für meine Familie und mich keine leichte Zeit, aber es war richtig, Haltung zu zeigen.

Besonders am Herzen lag Ihnen auch immer die Verbindung zu Christen in der DDR...

Ja, aber nicht erst als Bischof. Schon als Pastor und später als Propst in Großhansdorf im Kreis Stormarn gehörte ich zu der Region, für die entlang der innerdeutschen Grenze 1973 der so genannte kleine Grenzverkehr eingerichtet wurde. Es war für uns im Konvent umkompliziert geworden, in die DDR einzureisen. Es entstanden sehr gute und produktive Kontakte zu Kirchengemeinden rund um Schwerin, auch Stormarner Gemeindeglieder nahmen daran teil. Gern erinnere ich mich noch an meine Einführung als Bischof 1991, zu der auch eine Delegation aus Mecklenburg anreiste. Mir wurde eine Flasche Wein „Deutscher Durchbruch“, Jahrgang 1989, überreicht, diesen Wein habe ich gern getrunken. Übrigens bestehen Kontakte zu Pastorenkollegen bis heute.

"Es lag etwas in der Luft"

Sie haben noch vor der Wende an einem Kirchentag in der DDR teilgenommen, richtig?

Das war im Juli 1989 - und man spürte schon sehr genau, dass irgendetwas passieren würde. Es lag was in der Luft. Nach dem Abschlussgottesdienst zogen hunderte von Menschen spontan vom Veranstaltungsort in Richtung Leipziger Innenstadt. Sie skandierten „Nie wieder Wahlbetrug“ und „Nie wieder Platz des himmlischen Friedens“. Kurz zuvor hatte es noch einmal Wahlen in der DDR gegeben mit den bekannten 97-Prozent- Ergebnissen, die chinesische Regierung hatte in Peking Studentenproteste blutig niederschlagen lassen. Das Besondere war: Die Volkspolizei ließ die Kirchentags-Teilnehmer gewähren. Man sieht: Die späteren bekannten Montags-Demos in vielen Städten der DDR hatten Vorgänger.

Was macht Ihrer Meinung nach eine gute Pastorin beziehungsweise einen guten Pastor aus?

Sie oder er ist Botschafter der Heiligen Schrift. Seine Aufgabe ist es, diese auszulegen, zu predigen und zu leben. Der Gottesdienst, bei dem der Besucher spürt, dass er gut vorbereitet worden ist, hat dabei eine zentrale Bedeutung. Das gilt selbstverständlich auch für den Konfirmanden-Unterricht. Ein guter Pastor muss mit seiner Gemeinde vertraut sein. Die Menschen müssen die Pastorin oder den Pastor kennen. Sie oder er muss jemand sein, von dem die Gemeindemitglieder wissen, dass sie oder er sich kümmert und Interesse an ihnen hat. Bei sehr großen Gemeinden ist das natürlich schwierig, ich weiß das selbst. Aber: Ich habe mich immer bemüht, diesem Anspruch gerecht zu werden und die Menschen zu besuchen. Ich erinnere mich noch an die Flensburger Diakonisse, Schwester Thea. Sie war unermüdlich mit dem Fahrrad in der Gemeinde unterwegs und hat mir stets gesagt, wo ich bei wem einmal vorbeischauen sollte, wo meine Unterstützung benötigt wird. Das war unerlässlich.

"Der Abbau der Kirche bewegt mich"

Gibt es Dinge, die Sie sorgen?

Der Abbau der Kirche bewegt mich natürlich sehr, weil ich viele Jahre die umgekehrte Tendenz erlebt habe. Als ich 1963 in Flensburg-Mürwik meine erste Pfarrstelle übernahm, spielte Kirche eine wichtige Rolle, gesellschaftlich, politisch. Jahrgänge mit 70/80 Konfirmanden waren für mich nicht ungewöhnlich, die Mürwiker Gemeinde hatte immer über 300 Taufen im Jahr, Hausbesuche wurden erwartet. Ob wir noch einmal die Rolle einnehmen können, die wir gehabt haben? Das wünsche ich mir von Herzen.

Sie feiern jetzt Ihren 90. Geburtstag. Was wünschen Sie sich von Ihrer Kirche?

Eine große Freude war bereits der Anruf aus der Bischofskanzlei in Hamburg, dass zusammen mit mir ein Gottesdienst zu meinem Geburtstag gefeiert werden soll. Und nun, nun wünsche ich mir - ganz einfach - einen schönen Gottesdienst.

 

 

Zur Person: Karl Ludwig Kohlwage

Karl Ludwig Kohlwage wurde am 31. März 1933 in Salzgitter-Salder geboren. Nach erfolgreichem Studium in Hamburg und Heidelberg wurde er 1962 in Lübeck ordiniert, diente unter anderem als Studieninspektor am Predigerseminar Preetz, Pastor in Flensburg-Mürwik und Großhansdorf-Schmalenbek sowie als Propst in Stormarn.

Seit 1980 war er Mitglied der Kirchenleitung der Nordelbischen Kirche und wurde am 1. Oktober 1991 zum Bischof im Sprengel Holstein-Lübeck berufen. Ein Jahr später wurde er Vorsitzender der Kommission des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland für Ausländerfragen und ethnische Minderheiten sowie Mitglied der Zuwanderungskommission der Bundesregierung. Von 1994 bis 2000 war Bischof Kohlwage Mitglied der Synode der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD). Am 1. April 2001 wurde er feierlich emeritiert.

Träger des Großen Bundesverdienstkreuzes

Im Ruhestand engagierte sich Karl Ludwig Kohlwage unter anderem für Belange der Bordseelsorge und forschte zum Thema „Bekennende Kirche vor und nach 1945“. 2004 erhielt er das Große Bundesverdienstkreuz. Ab 2008 war er Vorsitzender der ökumenischen Arbeitsgemeinschaft Lübecker Märtyrer.

Karl Ludwig Kohlwage lebt in Lübeck, ist verheiratet, Vater von drei Kindern und zweifacher Großvater.