Lübeck. Vom Leib, der viele Glieder hat oder vom Wort, das Fleisch geworden ist - in der Bibel spielt das Thema Körper eine große Rolle - ob im konkreten oder übertragenen Sinn. Auch die Künstlerin Mandy El-Sayegh treibt das Thema Körper in all seinen Ausprägungen um. Als sie sich auf ihre Ausstellung in der Lübecker St. Petri-Kirche vorbereitete, tat sie etwas Ungewöhnliches: "Ich mag es, wenn Dinge spontan zu mir finden. Ich habe zwei Monate lang das Neue Testament neben mich auf den Nachttisch gelegt. Jeden Morgen habe ich eine andere Seite aufgeschlagen, bis ich die Stelle im Korintherbrief über den Leib und die Glieder fand, und wie die Glieder eines Leibes als Ganzes handeln."
Kunst ist für El-Sayegh ein intuitiver Prozess
Sie habe daraufhin eine Art einheitliche "Haut" kreieren wollen, in die einzelne körperliche Elemente integriert werden sollten, erzählt El-Sayegh. Sie nennt ihr Werk "White Grounds". Kunst sei für sie ein intuitiver Prozess, sagt El-Sayegh. Nichts ist vorgeschrieben“, fügt sie hinzu. Vieles sei erst in letzter Minute entstanden. Oliver Zybok, der Direktor der Overbeck-Gesellschaft, begegnete den Werken von Mandy El-Sayegh erstmals 2019 in einer Ausstellung in London. "Wie sie dort den Raum bearbeitet hat, hat mich total 'geflasht‘ und ich habe sofort gemerkt, wie viele Themen sie bearbeitet. Und ich habe gesehen, wie auch biographische Materialien eine Rolle spielen. Ein Beispiel ist Latex. Mandy ist 1986 in Malaysia geboren und ihre Mutter hat noch auf einer Kautschuk-Plantage gearbeitet. Diese Bezüge zu entdecken, ist ganz wunderbar", schwärmt Zybok.
Schicht aus Latex bedeckt den Boden von St. Petri.
Der Boden der Kirche ist mit einer Schicht aus Musselin-Stoff und weißer Latexpaste überzogen. Auf den ersten Blick wirkt es so, als sei alles noch flüssig. Eine Woche lang hat die Künstlerin hier gearbeitet, was auch körperlich sehr anstrengend war, wie sie berichtet. Das innere Kirchenschiff ist von großen Stoffbahnen umgeben, die mit Fragmenten verschiedener Materialen überzogen sind. Das hindurchscheinende Sonnenlicht lässt sie plastisch erscheinen, das Auge arbeitet sich an der Oberfläche ab und sucht im Abstrakten das Konkrete. Vor dem Altarraum ist eine Leinwand gespannt, auf der eine Videoinstallation Rückseiten menschlicher Körper in Bewegung zeigt. Insgesamt ist das Setting nicht düster, sondern sehr hell. Der Raum habe sie von Anfang überwältigt und auch ein wenig verängstigt, sagt El-Sayegh. Aber sie habe sich davon nicht einschüchtern lassen wollen, sondern sich schließlich auf ihre Arbeit konzentriert, die nun hier auf besondere Art und Weise zur Geltung kommt.
"Enfleshing" stellt auch religiöse Bezüge her
Der Titel der Ausstellung lautet "Enfleshing", was so viel bedeutet, wie einer Sache eine körperliche Form geben. Schnell denkt man dabei im religiösen Kontext an die Themen Fleischwerdung und Inkarnation. Mit "Enfleshing" nimmt El-Sayegh auch Bezug auf die verstorbene britische Künstlerin Helen Chedwick, die unter dem gleichen Titel Nahaufnahmen menschlicher Oberkörper mit elektrischem Licht gezeigt hat und dabei sowohl philosophische als auch theologische Bezüge hergestellt hat. Die Formulierung "Fleisch werden" bedeutet für El-Sayegh, die Idee eines Künstlers konkret werden zu lassen. Sie formuliert es so: "Enfleshing ist ein schönes Wort. Ich möchte das Fleisch zurück in die Geschichte bringen. 'Flesh' bezieht sich auf zwei Dinge: Wir brauchen die gehobenen Ideen, wir müssen unser Sein ins Abstrakte transzendieren, aber wir müssen auch unsere eigene Realität anerkennen.“
In St. Petri wird dieser Bezug auch akustisch hergestellt. Durch das Kirchenschiff schallt eine Klangarbeit der Komponistin Lily Oakes, die auf dem Ton eines Tropfens in einem Weinglas basiert und unter anderem auch auf das christliche Abendmahl verweisen soll.
Vorsichtige Annäherung an das "Körperliche"
"Hier ist eine Kirche in der Kirche entstanden", sagt Pastor Bernd Schwarze über die Stoffbahnen, die das innere des Kirchenschiffs rahmen. "Ich frage mich, ob der Raum, der hier aus Latex und 'Haut' entstanden ist, eigentlich eine Negation des Raums ist oder den Raum eher fokussiert? Ich stelle fest, dass dieser Umgang mit Haut und Körperlichkeit viele Anstöße gibt, darüber theologisch nachzudenken. Im Christentum wird die Inkarnation, die Fleischwerdung Gottes, sehr radikal gedacht, weil das Fleischliche und Leidende in der Christusfigur so eine große Rolle spielt. Ich bin froh, dass es hier so dezent gelöst ist. Es gibt auch viel härtere und schärfere Darstellungen, die die Künstlerin präsentiert hat. Hier kann man sich dem vorsichtig annähern."
Der zweite Teil der Ausstellung, die eine Kooperation mit der Overbeck-Gesellschaft Kunsterverin Lübeck ist, ist im Overbeck-Pavillon zu sehen und hier nimmt das Thema "Fleisch/flesh" noch konkretere Züge an. Mandy El-Sayegh hat den Boden ebenfalls "verkleidet" - nicht mit Stoff, sondern mit Zeitungspapier, das mit Latex bestrichen ist. An den Wänden hängen großformatige Ausschnitte aus medizinischen Lehrbüchern, die die Künstlerin ebenfalls mit Latex und Farbe bearbeitet hat. Außerdem hat sie einige ihrer Arbeitsmaterialien und Werkzeuge als eigenes Kunstwerk drapiert.
Die Ausstellung wird am 10. Februar 2023 mit einer Performance der Künstlerin eröffnet - um 17 Uhr /17:30 Uhr und 18:30 Uhr.
Zur Künstlerin:
Mandy El-Sayegh stammt aus Malaysia und wurde 1986 geboren, sie lebt in London, wo sie auch Bildende Kunst und Malerei studiert hat. Ihre Werke sind in öffentlichen Sammlungen weltweit zu sehen, wie etwa in der Tate Modern. Ausgestellt hat sie unter anderem im Centre Pompidou in Paris.
Infos zur Ausstellung:
Mandy El-Sayegh "Enfleshing"
St.-Petri-Kirche: 11. Februar bis 19. März 2023
Overbeck-Pavillon: 11. Februar bis 16. April 2023